Reiseleben, Heft 6 / 1983

Falsche Baedeker in großem Stil

Reinhard Öhlberger

An und für sich besteht das Repertoire der Plagiate und Imitationen auf die Reisehandbücher der Firma Baedeker zum Großteil aus gelegentlichen Einzelprodukten, die entweder in der äußeren Aufmachung oder durch die Verwendung des Namens verschämte Anstalten unternahmen, am Erfolg des "großen Bruders" mitzunaschen. Neben diesen vielen Eintagsfliegen stellt allerdings die Serie der "Illustrierten Führer" aus dem Wiener Verlag Hartleben einen quantitativ unübertroffenen Höhepunkt dar. Der Verlag, 1803 gegründet, war im Wien des 19. Jahrhunderts ein renommiertes Institut und hatte sich schon längst mit einer Fülle von populärwissenschaftlichen Werken aus Geographie und Geschichte einen Ruf erworben, als er 1878 auch folgendes Buch herausbrachte: "Die Böhmischen Bäder.- Geschildert von Lucian Herbert." Dieses Buch konnte entweder in einem gehefteten Umschlag um 2 Gulden, oder, wie es Reklameanzeigen wörtlich angeben, "in rothem Baedeker-Einband" um 2 Gulden 50 Kreuzer erworben werden.

Man sollte sich vergegenwärtigen, daß genau ab dem Jahr 1878 der Verlag Baedeker seine Reiseführer im "neuen Gewand" präsentierte. Bekanntlich waren die Bände vorher in das ziemlich plastisch gerippte Leinen gebunden, mit der blindgeprägten Rahmeneinfassung auf den Deckeln und den Schein-"bänden" auf dem Buchrücken; die neue Einbandgestaltung mit dem punktgerasterten Leinen und den charakteristischen Linien der Blindprägung hat sich seit diesem Wechsel ja dann volle 65 Jahre gehalten. Baedekers "neues Kleid" ist nun ebendasselbe, das der Prototyp der Hartleben-Führer trägt. Zieht man weiter in Erwägung, daß der Verlag Hartleben unter den drei Verlagsorten "Wien, Pesth, Leipzig" firmierte und seine Einbandimitationen bis 1915 in der nicht geringen Zahl von 69 Titeln herausbringen konnte, so ist eine Verständigung zwischen Baedeker und Hartleben über die Einbandgestaltung wohl nicht ohne Grund anzunehmen.

Nach den "Böhmischen Bädern" und einem weiteren Prototyp, den "Atlantischen Seebädern" von Hesse-Wartegg 1879, begann der Verlag Hartleben seine Reiseführerproduktion in größerem Stil zu betreiben. Von 1880 bis 1883 wurden die ersten 16 Titel der "Illustrierten Führer", wie sie von da an hießen, herausgegeben. Sie waren säuberlich mit Nummern nach der Reihenfolge ihres Erscheinens versehen und im Gegensatz zu den beiden oben genannten Vorreitern stellen sie fast durchwegs in der Schreibweise keine "Skizzen" oder "Stimmungsbilder" mehr dar, sondern sind echte Reiseführer. Der "Illustrierte Führer auf der Donau, von Regensburg bis Sulina" und der "Illustrierte Führer durch Wien und Umgebung" kamen im Jahr 1880 als Nr. 1 und Nr. 2 heraus. Auch die späteren Titel befassen sich vorwiegend mit Einzeldarstellungen der Gebiete der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Hier hatte der Verlag Baedeker nur relativ kursorische Arbeit getan, wenn man von den genaueren Beschreibungen der großen Städte in "Österreich-Ungarn" und des deutschen Alpenanteils im "Südbayern, Tirol, Salzburg etc."-Band absieht.

Was konnte also der Verlag Hartleben anbieten?

Führer durch die Karpathen, das Pustertal, Ungarn, Triest, Niederösterreich und vieles weitere in bunter, fast allzu bunter Reihenfolge. Bis auf wenige Titel (8 Stück) haben alle einen Autor explizit angeführt; zieht man zum Vergleiche zur Arbeitsweise des Hauses Baedeker, das zu dieser Zeit ebenfalls schon zum Teil fremde Manuskripte als Grundlage heranzog (Palästina und Syrien, Ägypten, Rußland), so wurden diese Hilfen im Fall Baedeker doch sehr in den eigenen Redaktionsstil eingebunden. Für den Verlag Hartleben konnten die Herren Autoren um einiges frischer drauflosschreiben und das erklärt die relativ uneinheitliche Gestaltung der einzelnen Bände dieser Reihe. Dazu kommt noch die ziemlich unglückliche Idee mit der chronologischen Durchnummerierung: Ein Verlagsprogramm wie bei Baedeker, das sich in steter Fortentwicklung und Expansion geradezu als logisches Gebäude präsentiert, konnte da natürlich nicht entstehen, sondern viel eher - auf gut wienerisch gesagt - ein Fleckerlteppich. Manche Kronländer der Monarchie sind durch mehrfache Beschreibungen verschiedener Autoren geradezu überrepräsentiert wie etwa Salzburg (Nr. 15: Ill. Führer durch Salzburg und das Salzkammergut, 4 Auflagen 1883-1904; Nr. 27: Ill. F. durch die Alpen von Salzburg etc. 1887; Nr. 35: Kleiner ill. F. durch Salzburg und das Berchtesgadener Land, 2 Auflagen 1889-1897; Nr. 37: Ill. F. durch Saalfelden im Pinzgau, 1890; Nr. 46: Ill. F. durch die Salzburger und Berchtesgadener Kalkalpen, 1893), manches touristisch weniger Erschlossene wieder gar nicht oder erst spät (z.B. Nr. 66: Ill. F. durch Galizien, 1914).

Von den 67 Titeln behandeln 53 ganz oder überwiegend die Monarchie; sechs beschreiben Routen teilweise auch durch andere Länder, so die Donauführer auf deutsch und französisch und die Bücher über die italienischen Alpenseen, nördliche Adria, Mittenwaldbahn und über die "Hundert Luftkurorte", letzteres eine kuriose Mischung aus Kurberichterstattung, medizinischen Ratschlägen und Jubeljournalismus, wohl eher für das Paradiesgärtlein des Lehnstuhltouristen gedacht.

Nur acht Bände stehen ganz abseits vom Thema Österreich-Ungarn: Eine Italien-Beschreibung in drei Teilen (18891891), die Schweiz (1892), Spanien und Portugal in einem "Kleinen" (1884) und einem "Großen" (1892) Illustrierten Führer und zwei Bände über deutsche Landschaften: "Württemberg" 1886 und die "Rheinlande" von 1893.

Wie es schon die Titelbezeichnung ausdrückt, waren die Hartleben'schen Reiseführer illustriert. Eingedenk des großen Popularitätsvorsprunges von Baedeker oder auch Meyer mußte man sich ein zuverlässiges Lockmittel einfallen lassen, und stattete also die Bücher mit manchmal sehr geschmackvollen, immer wieder aber auch zu klobigen oder nichtssagenden Holzstichen aus. Je nach dem Thema und Alter des jeweiligen Bandes erscheinen sie uns heute mehr oder weniger interessant. Manche Führer (vom Sammlerstandpunkt aus die besten) haben ihre Ansichten auf separierten Blättern; bei anderen sind sie in den Text eingefügt, und der Druck der Rückseite macht sich dabei oft bildstörend bemerkbar. Nach 1890 hielt die Photographie sukzessive Einzug in diese Reiseführer, leider meist mit tintigen und unscharfen Klischierungen und vielen mittleren Grauwerten. Längere Zeit waren die Bände je nach Vorrat mit Illustrationen in beiden Wiedergabetechniken versehen, bis die totale Umrüstung auf die Photographie etwa 1910 erreicht war. Die sonstige Ausstattung mit Landkarten und Stadtplänen ist nicht allzu üppig. In der Regel befindet sich eine Übersichtskarte lose am Ende des Bandes, nur von einer schmalen Streifenlasche gehalten. Oft genug ist die Karte später abhanden gekommen und eine leere Lasche (mancher findige Händler pflegt sie wohl wegzuschneiden) sollte beim Kauf zur Vorsicht raten. Kollationierungshilfen in Form von Beigaben-Verzeichnissen sind häufig, aber durchaus nicht in jedem Band zu finden. Bei den ältesten Exemplaren der Reihe kann man sich meist nur auf die summarischen Titelangaben stützen.

Inwiefern die Illustrierten Führer für den Verlag Hartleben ein kaufmännischer Erfolg gewesen sind, läßt sich heute nur schwer abschätzen. Ein paar Rückschlüsse sind allerdings möglich. Das jährliche Editionsvolumen hat stark variiert; bis 1893 wurden in der Regel zwischen drei und vier neue Titel pro Jahr herausgebracht (mit einer Produktionsspitze 1883: sieben neue Bände und eine Zweitauflage), danach waren es im Schnitt nur mehr eine oder zwei Neuerscheinungen und auch das nicht immer. Allerdings hat der ganze Zeitraum von 1880 bis 1915 kein Jahr, wo nicht wenigstens eine Folgeauflage eines schon bestehenden Titels auf den Markt gekommen wäre. A propos Auflagen: nur wenige der Hartleben-Führer haben mehr als eine erlebt. Zum Teil lag das an der Arbeitsweise des Verlages, eine Fülle von Beschreibungen zu erzeugen, deren Gebietsabdeckung sich immer wieder überschnitt. Andererseits ist möglicherweise ein nur mäßiger Verkaufserfolg ebenfalls als Grund anzunehmen. Von den 67 nummerierten Titeln sind nur 20 in weiteren Auflagen herausgebracht worden und von diesen wieder nur vier in höherer Anzahl: Zwei Stadtführer durch Wien, davon der eine etwas umfassender von Moritz Bermann in 8 Auflagen 1880-1908, der andere als "kleiner illustrierter Führer" betitelt und von Julius Meurer, in ebenfalls 8 Auflagen 1889-1912; ein Führer durch Triest ohne Autorenangabe in 6 Auflagen 1883-1913 und der vermutlich größte Erfolg der ganzen Serie, der "Illustrierte Führer durch Dalmatien, längs der Küste von Albanien bis nach Korfu und den Jonischen Inseln", der elfmal von 1883 bis 1915 aufgelegt wurde. (Bezeichnenderweise gibt es in den Baedeker'schen "Österreich-Ungarn"-Bänden ab 1884 ein Kapitel "Bosnien und Dalmatien", als Zeichen dafür, wie sehr die Regungen der Konkurrenz von Baedeker beachtet wurden). Exemplare dieser Dalmatien-Führer lassen sich daher auch relativ häufig in den Antiquariaten aufstöbern.

Ein Detail wäre noch erwähnenswert, das auf den Absatz der Illustrierten Führer freilich ein trübes Licht wirft: Es kamen alle Bände der Reihe zwar ursprünglich mit Jahreszahl auf dem Titelblatt heraus, trotzdem aber findet sich heutzutage eine ziemliche Anzahl von ihnen ohne diese Angabe. Eine genauere Inspektion des Papiers der Titelseiten liefert hier die Lösung: man hat offenbar aufgrund größerer Lagerbestände von bereits veralteten "Illustrierten Führern" den Jahresvermerk behutsam herausgekratzt, um diese Bücher noch "irgendwie" verkaufen zu können...

Ob sich dieser unorthodoxe Kunstgriff zur vermeintlichen Aktualisierung bewährt hat? Die Generation von Buchhandelslehrlingen, die da wacker mit dem Rasiermesser am Werk zu sein hatte, kann es uns leider nicht mehr erzählen.

Zweifellos gibt es unter den Hartleben'schen illustrierten Reiseführern häufigere und seltenere, gesuchte und weniger wichtige Exemplare. Das Feld zur Durchleuchtung und Bewertung dieser im Prinzip durchaus sammelwürdigen Reiseführerserie ist noch offen, der Preis meist erschwinglich. Zugleich kann man aber auch die erstaunlichsten Fehleinschätzungen erleben, wie es z.B. dem Autor dieser Zeilen in einem sehr bekannten und hochgeschätzten Antiquariat in München ergangen ist, wo er ein "Dalmatien"-Exemplar mit folgenden bibliographischen Glossen neben der Preisauszeichnung fand:

"1.: sehr selten.- 2.: Baedeker behandelt dieses Gebiet nicht."

Reinhard Öhlberger: Falsche Baedeker in großem Stil
In "Reiseleben" Heft 6, S. 13-18.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1983)


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