Reiseleben, Heft 8 / 1984

Auf der Suche nach einem verlorenen Zitat

oder: "Welche Lust gewährt das Reisen!"

von Heinrich Krohn

(erstmals erschienen in der Süddeutschen Zeitung, München, vom 19. Mai 1984, alle Rechte beim Verfasser)

I

Am 2. Mai 1838 fährt ein etwa vierzigjähriger Herr mit der belgischen Eisenbahn von Antwerpen nach Mecheln. Aufmerksam beobachtet er Ablauf und Umstände der Reise, mißt die Fahrzeit und macht Notizen. Kein Wunder, daß alle Einzelheiten den Passagier interessieren, war die Strecke doch erst zwei Jahre vorher in Betrieb gegangen. Das junge Königreich- hatte damals neben Frankreich vor allen anderen europäischen Staaten zuerst die Vorteile des neuen Verkehrsmittels erkannt und verfügte nun schon über ein Netz von Verbindungen zwischen den wichtigsten Städten, während in Deutschland zur selben Zeit kaum mehr.als zwanzig Kilometer Streckenlänge in Betrieb waren: Unser Reisender – es ist der junge Buchhändler und Verleger Karl Baedeker aus Koblenz - macht an diesem Tag seine erste Fahrt mit der Eisenbahn; abends faßt er die Eindrücke in einem enthusiastischen Brief an seinen Vater zusammen. Nachdem er genau die Vorteile der Bahn gegenüber der altehrwürdigen Postkutsche hervorhebt, - Bequemlichkeit, Schnelligkeit und Billigkeit - schließt er pathetisch: "Welche Lust gewährt das Reisen!"

Der Leser stutzt. Gingen diese Worte Baedeker im selben Augenblick durch den Kopf, waren also von ihm erdacht, oder gebrauchte er ein Zitat? "Welche Lust gewährt das Reisen!" Es mußte wohl ein Zitat sein, paßte es doch so gut in jene Jahre stürmischer Veränderungen, wo neue Formen des Transports und zunehmender wirtschaftlicher Wohlstand eine Entwicklung eingeleitet hatten, die schließlich auch zum Massentourismus unserer Tage führen sollte. Doch wenn es ein Zitat war (Brockhaus:wörtlich angeführte Stelle aus dem Werk eines Schriftstellers oder Dichters...), so mußte es auch eine Fundstelle dazu geben. Epea pteroenta, geflügelte Worte, so hatte schon Homer den Begriff umschrieben und "Geflügelte Worte" nannte auch 1864 der Berliner Gewerbeschullehrer Karl Büchmann seine Sammlung landläufiger Zitate, die es bis zum heutigen Tag auf über dreißig Auflagen bringen sollte. Hier mochte Rettung winken. Doch leider nein! Sieht man von dem ...wenn Einer eine Reise tut... des Mathias Claudius ab, so gibt es im ganzen Büchmann erstaunlicherweise kein einziges Zitat, das sich mit dem so elementaren Vorgang des Reisens befaßt.

II

Einige Monate vergehen. Da findet sich beim Stöbern in einem Münchner Antiquariat eine seinerzeit sehr beliebte Reisebeschreibung: "Professor Eduard Hildebrandts Reise um die Erde." Hildebrandt, ein geborener Danziger, war um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts als königlicher Hofmaler in Berlin tätig gewesen. Von dort aus unternahm er zahlreiche Reisen in alle Teile der Erde, bis er schließlich zwischen 1862 und 1864 eine Fahrt um den ganzen Globus durchführt; in Anbetracht der damaligen Möglichkeiten des Fortkommens und der Beherbergung alles andere als ein alltägliches Unterfangen. Frucht der Weltumrundung ist schließlich dieses Buch; nimmt man die vielen Auflagen als Maßstab, so muß es zu seiner Zeit wohl ein Bestseller gewesen sein. Hildebrandt berichtet darin auch von seinem Aufenthalt in Hongkong, wo in jenen Tagen Unruhen unter der chinesischen Bevölkerung und Piratenüberfälle die europäische Kolonie in Angst und Schrecken versetzt hatten. Er schließt das Kapitel: Die Kaufleute verweigern daher die Zahlung und die Kulis die Arbeit, die bedrohten Engländer werfen zum Schutze der Victoriastadt Schanzen auf; ich versorge mich für alle Fälle mit einem Säbel, versehe meinen Revolver mit frischer Ladung und singe mit halber Stimme dazu das Motiv aus Johann von Paris: "Welche Lust gewährt das Reisen!"

Da war es also wieder! Es war tatsächlich ein Zitat, denn diesmal war die dazugehörige Fundstelle angegeben. Ein Opernverzeichnis gab auch gleich Auskunft: "Johann von Paris (Gianni di Parigi) von Gaetano Donizetti. Text von Romani. Uraufführung 1839." Da konnte aber etwas nicht stimmen! Karl Baedeker hatte das Zitat ja schon im Mai 1838, also ein Jahr früher gebraucht und der Gedanke, daß sein Brief als Textvorlage für die Oper gedient haben mochte, war natürlich absurd. So war auch diese Fährte im Sand verlaufen.

III

Wieder geht einige Zelt ins Land. Da zeigt sich beim Blättern in einer Auswahl von Briefen Heinrich Heines ein Schreiben vom 8. Mai 1824 an seine Schwester Charlotte Embden. Heine schildert darin die Rückreise von seinem zweiten Aufenthalt in Berlin, wo er ja früher schon zwei Studienjahre verbracht hatte und gerne gesehener, jugendlicher Gast im Salon der Rachel v. Varnhagen gewesen war. Heine fuhr diesmal mit der Schnellpost nach Göttingen zurück, bei schönem Wetter und in 48 Stunden, wie er hervorhebt. Um Mitternacht kommt die Kutsche in Harzgerode an. Im Posthaus ist "die Stube mit Passagieren gefüllt, die teils mit anderen Postwagen, teils mit Extras gekommen waren und dort Kaffee tranken, ihre Pelze an- und auszogen, mit dem Postmeister laut zankten, über das Wetter laut fluchten und Katzenjammergesichter schnitten." Und der Dichter berichtet nun seiner Schwester von einer wunderschönen Frau, die über all das Ungemach in der engen Poststube verdrießlich wird und ihren Begleiter mit Vorwürfen überhäuft. Da mischt sich Heine in das Gespräch ein: "Ich suchte die mißmutige Dame so gut als möglich zu trösten und trillerte aus Jean de Paris: Welch Vergnügen gewährt das Reisen!"

Eine neue Begegnung! Aber jetzt war das Zitat schon ein lieber Bekannter, den zu treffen einem Freude bereitete. Daß nun bei Heine das Reisen Vergnügen statt Lust gewährt, das konnte wohl an der Übersetzung der französischen Vorlage liegen, doch daß es überhaupt Heine war, der hier ein Liedchen trillerte, mochte erheitern. Hatte er doch zwei Jahre früher in einem Brief aus der preußischen Hauptstadt amüsant Klage darüber geführt, daß ganz Berlin ein anderes Lied, nämlich den "Jungfernkranz" singe, zwitschere oder quake. Der Dichter schreibt dann seiner Schwester, daß die Schöne bald versöhnt gewesen sei, denn als sie mit ihrem Begleiter die Poststube verläßt, "wandte sie sich noch oft grüßend nach mir um und seufzte und trillerte: Welch Vergnügen gewährt das Reisen." Und Heine meint noch: "Diese Worte klingen mir heute den ganzen Morgen im Ohr."

IV

Aber das ging nicht nur ihm so. Es mußte also noch eine Vorgängerin von Donizettis Oper geben. In einer alten Ausgabe von Riemanns "Opern-Handbuch" fand sich wirklich die richtige Spur: "Jean de Paris. Komische Oper in zwei Akten von Francols Adrien Boieldieu. Uraufführung Paris 4. April 1812. Text von Saint-Just." Nun war also der Name des Textverfassers kein Geheimnis mehr. Claude Godard d'Aucour de Saint-Just, wie sein voller Name lautete, war der Librettist Boieldieus, für neun seiner Opern hatte er die Textvorlagen geliefert. Die Handlung des "Jean de Paris" ist nicht ohne Reiz: Der Dauphin von Frankreich reist incognito seiner ihm zugedachten Braut, der Prinzessin von Navarra, entgegen und trifft mit ihr in einem kleinen Pyrenäengasthof zusammen. Man erkennt sich bald, doch jeder spielt vor jedem Theater, aber schnell endet alles im beiderseitigen Eingeständnis der Liebe. Obwohl sie sofort zu den beliebtesten Werken des Komponisten gehörte und in Dresden an der Deutschen Oper von Carl Maria v. Weber herausgebracht und mit großem Lob bedacht worden war, ist die Oper inzwischen schon lange von unseren Bühnen verschwunden. Nun stimmten also alle Daten. In der Staatsbibliothek fand sich schließlich auch eine Partitur mit dem Originaltext von Saint-Just. Und mitten im ersten Akt gibt es dort die Kavatine der Prinzessin: "Quel plaisir d'etre en voyage!" Es war die Quelle des Zitats. Eine vergnügliche Puzzlejagd durch vergangene Kulturlandschaften hatte ihr Ziel erreicht:

"Welche Lust gewährt solch Reisen!"

Eine kleine Begebenheit am Rande:

Anläßlich des 2. Baedeker-Symposiums in Koblenz trafen sich die Teilnehmer zum Abendessen am Anreisetag in einem gemütlichen Koblenzer Lokal. Frau Elke Baedeker und Frau Rudolph kamen etwas später nach. - Im Laufe der Unterhaltung berichtete Frau Baedeker von dem obigen Artikel "Welche Lust gewährt das Reisen!" ganz begeistert. Welche Lust war es für ihren Tischnachbar, ihr in der versammelten Runde den Autor persönlich vorstellen zu dürfen!

Heinrich Krohn: Auf der Suche nach einem verlorenen Zitat
In "Reiseleben" Heft 8, S. 13-15.
(Holzminden: Ursula Hinrichsen; 1984)
ISBN 3-922293-03-4


Chronologische Übersicht des Verlags Karl BaedekerTable of contents25 Jahre Verkehrshaus der Schweiz in Luzern

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